Die berühmten Wimmelbücher von Rotraut Susanne Berner aus dem Gerstenberg-Verlag werden in unserer Familie seit anderthalb Jahren exzessiv gelesen. Weil ich zeitgleich in der Grundschule anfing, habe ich sie gleich zur Sprachförderung eingesetzt, auch das ein Riesenspaß. Letzte Woche gab es das Puzzle zum Herbstbuch geschenkt (sauschwer! Die Form der Teile ist Mist!) und was macht mein kluges Kind sofort? Greift sich das Buch als Vorlage, kommentarlos. Das neueste Highlight für die Patatina ist aber das Wimmel-Kochbuch, das sie nicht mehr aus der Hand legt seit ein paar Tagen. Weil man es vorlesen kann. Die Wimmelbücher nämlich nicht.
Da sind keine Texte mit Wörtern aus Buchstaben drin.
„Die kann man nicht lesen. Nur ansehen.“
Denkt sie.
Ihr ist ja natürlich nicht klar, was sie darin trotzdem alles schon gelesen und übers Lesen gelernt hat von Rotraut.
Zunächst natürlich etwas über lineares und zirkuläres Erzählen: Die Jahreszeiten gibt es nur in einer exakten Reihenfolge (zumindest vor dem Klimawandel), aber diese Reihenfolge wiederholt sich unendlich. Das Wimmel-Jahr fängt mit dem Winter an, na und? Da sind auch die Linien noch dicker, der Herbst ist feiner und detailreicher.
Im Herbst-Wimmelbuch ist die berühmte Fabel von Fuchs und Rabe eingebaut (ich kenne vor allem die Version von Jean de la Fontaine aus dem Französischunterricht , aber die Fabel geht natürlich auf Äsop zurück und Lessing hat auch eine gemacht). Im Wimmelbuch wird sie zuerst mit einem Bild-Zitat angekündigt: Im Kinderzimmer auf Seite 1 hängt ein Plakat.

Auf der Marktplatz-Seite klaut dann ein Rabe Frank den Käse vom Teller, und auf der Kaufhaus-Seite sieht man rechts im Hintergrund den Fuchs vor dem Raben stehen, der den Käse noch im Schnabel hält. Und hört den Fuchs fast sagen:
„Que vous êtes joli ! que vous me semblez beau !
Sans mentir, si votre ramage
Se rapporte à votre plumage,
Vous êtes le Phénix des hôtes de ces bois.“
Also, so geht literarische Bildung im Wimmelbuch. Und es ist wohlgemerkt nicht nur eine literarische Anspielung auf die Fabel, sondern auch eine Verknüpfung von Fiktion und Wirklichkeit: Was zuerst auf dem Bild passiert, passiert dann auch „in echt“ (in Wimmlingens Echtheit).
Dann erfährt man im Herbst-Wimmelbuch auch, dass man besser nicht wie Petra lesend durch die Welt spazieren sollte. Eine wichtige Lektion für Vielleserinnen wie meine Tochter, und ihr fällt auch auf, dass Petra das in einem anderen der Werke „immer noch nicht gelernt hat“. Mensch, Petra. (Ganz komisch übrigens, im Kochbuch ist Petra ein kleines Kind, aber hier doch ziemlich groß, oder? Wir sind sehr verstört ob des Schrumpfens.)

Was sich für komplexe Geschichten in Wimmlingen abspielen! Im Werbetext werden immer Manfred und Elke angeführt, deren Liebesgeschichte wir in allen fünf Büchern lesen. Aber mindestens genauso interessant sind doch die Leerstellen. Wo leben Lotte und Angelika? In welcher Beziehung stehen die Familien Thomas/Lene und Tanja-Barbara-Linus-Oliver zueinander? (Die Familie einer Freundin denkt nämlich, Linus und Lene wären Geschwister.) Wieso sieht Frank Thomas so ähnlich? Warum trägt Susanne immer Hüte? Wer ist die Clique um den Mann im Rollstuhl? Das Liebespaar am Bahnhof, die Radfahrer, wer sind die alle? Und wo versteckt sich Rotraut im Sommerbuch?
Es gibt da nämlich eine Figur, die sieht man immer nur von hinten.

Und dann gibt es ziemlich viel zu erfahren über den Stellenwert von Büchern und Literatur in unserem Leben und in Wimmlingen, über die Beziehung von Büchern zur Welt.
Da gibt es Bücher, die wir auch zuhause haben.


In Wimmlingen wird gern gelesen, und man besucht nicht nur die Bibliothek, sondern auch Ausstellungen über Bilderbücher. Und da sind wieder Bücher, die wir alle kennen. Die Erwachsenen nennen das Intertextualität, und die Kinder freuen sich, dass sie im Wimmelbuch was entdecken, was sie auch haben und mögen.


Und jetzt wird es ganz verrückt. Jetzt schauen wir mal ganz genau hin.

Da ist ja auch das Buch, das wir gerade lesen.
Da! Neben dem Gorilla-Buch! Da steht doch das Nacht-Wimmelbuch! Wie geht das denn? Häääää? Das hab ich doch in der Hand!? Wie kommt das denn da rein?
Das ist ja schräg.
Da seh ich mir die Buchhandlung doch noch mal genauer an, wie sieht es denn sonst da aus?
Im Frühling.
Sacre bleu! Da links unten in der Ecke! Auweiaaaa! Quelle: Frühlings-Wimmelbuch, Rotraut Susanne Berner, Gerstenberg-Verlag
Im Sommer.

Im Herbst. Im Herbst nur die Märchen von Andersen! Dafür hängt aber im Kinderzimmer vorne ein Poster mit dem Cover des Winter-Wimmelbuchs!
Im Winter.

Die Buchhandlung, das Tor zur Welt. Zu welcher Welt, ist die Frage. Geht es da ins Buch hinein oder aus dem Buch zu uns hinaus? Hm.
Was mich jetzt zusätzlich total verblüfft: Da geht auch wirklich immer was rein oder raus. Also entweder jemand (Susanne, Armin) geht tatsächlich hinein oder hinaus, oder der Rahmen wird gesprengt (Ball in Scheibe, und der Ball hat das gleiche Muster wie Rotrauts Klamotte!) ooooder jemand versucht sich unbefugt Zutritt zu verschaffen (Einbrecher)! Eine echt bedeutungsschwangere Buchhandlung.
Wie die Patatina das mit zwei fand, kann man sich hier ansehen:
Also, transzendetale Fragen, die Wimmlingen da aufwirft. Ich freue mich schon, dem zweiten Kind das Wimmeluniversum zu zeigen!

Fun Fact: Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Unterschied zwischen Vorlesen von Büchern mit und ohne Text für die Patatina darin besteht, dass sie merken kann, ob man sie bescheißt und kürzt.
So, und wer erkennt jetzt die ganzen anderen Buchcover? Gibts noch mehr literarische Ostereier?